18. Dezember — Engel
Morgens hatte Mona in Opas Adventskalender einen Engel gefunden, und nun hielt sie nach einem Ausschau. „Komisch“, sagte sie zu Mama. „Obwohl man die Bilder im Adventskalender kennt, hat man keine Ahnung, was das Christkind einem bringen wird. Zum Beispiel heute: Kriege ich einen Schokoladenengel? Einen Engel aus Stanniolpapier? Oder einen wie die, die an unserem Weihnachtsbaum hängen?“
„Vielleicht begegnest du sogar einem Engel“, warf Mama ein.
„Oooh! Meinst du einen echten Engel?“
Mama nickte lächelnd.
Mona stellte sich ans Fenster. „Ich guck mal raus, ob zufällig einer vorbeifliegt.“
Mama streichelte ihr über die Wange. „Tu das, mein Schatz.“
Durch die aufgeklebten Watte-Schneeflocken schaute Mona nach draußen. Doch nicht ein einziger Engel ließ sich blicken.
Gegenüber trat die alte Frau Görbel aus der Tür. Sie konnte nicht mehr gut laufen und stützte sich auf einen Stock. Ihr Mann war vor einiger Zeit gestorben und sie hatte nur noch Fipsi, ihren kleinen Hund. Der war auch schon alt und konnte genauso schlecht laufen wie sie. Die beiden gingen immer zusammen aus dem Haus. Heute war Fipsi jedoch nicht zu sehen.
Mona sah Frau Görbel nach, wie sie so hastig die Straße entlanghumpelte, wie sie konnte. Kurze Zeit später kam sie zurück und hinkte in die andere Richtung. Zwischendurch blieb sie stehen und rief etwas. Mona öffnete das Fenster einen Spalt. Nun konnte sie es verstehen. „Fispi!“, schrie Frau Görbel. „Wo bist du? Fipsi, komm her!“
Aber Fipsi kam nicht.
Mona warf sich ihren Mantel über. „Frau Görbel sucht Fipsi“, rief sie. „Ich lauf mal schnell zu ihr hin.“
„Pass auf der Straße auf!“
Jedes Mal, wenn Mona allein hinausging, sagte Mama das.
Frau Görbel war außer sich. „Ich finde Fipsi nicht! Ich habe die Haustür nur einen kurzen Moment offen stehen lassen. Da muss sie entwischt sein.“ Sie stützte sich schwer auf ihren Stock. „Meine Fipsi! Hoffentlich ist ihr nichts geschehen! Wenn ich mir vorstelle, dass sie … dass ein Auto …“ Frau Görbel konnte nicht weitersprechen. Tränen rannen über ihr faltiges Gesicht.
Sie tat Mona unendlich leid. Und sie hatte auch Angst um Fipsi. Der kleine Hund war so lieb und sie mochte ihn schrecklich gern! Wenn ihm was passieren würde, das wäre zu schlimm! „Ich helfe Ihnen, Fipsi zu suchen“, bot sie an. „Sie ist bestimmt nicht weit weg.“
„Lieb von dir, dass du das tun willst.“ Die alte Frau tätschelte Monas Wange. „Aber ich habe schon überall gesucht. Sonst kommt sie immer, wenn ich sie rufe. Und bald wird es schon dunkel! Was soll ich bloß machen?“
„Ich frage Papa. Der hilft uns bestimmt.“
Mona begleitete Frau Görbel erst mal in ihr Haus zurück. Schwer atmend ließ sich die alte Frau im Wohnzimmer auf dem Sofa nieder.
Mona wollte gerade ihren Papa holen, als sie aufhorchte. „Haben Sie das gehört?“, fragte sie Frau Görbel.
Die schüttelte den Kopf. Das war nicht weiter verwunderlich, denn sie war schwerhörig und vergaß meistens, ihr Hörgerät einzuschalten.
Da war das Geräusch wieder. Es klang wie ein Kratzen und Scharren und ein leises Fiepen. Und es kam eindeutig aus dem Keller.
„Frau Görbel“, fragte Mona, „waren Sie heute im Keller?“
Die nickte. „Ich habe meinen Weihnachtsengel heraufgeholt. Wie jedes Jahr ein paar Tage vor Weihnachten.“ Sie zeigte auf einen weißen Porzellanengel, der auf dem Fensterbrett stand und in jeder Hand eine Kerze hielt.
„Und war Fipsi da bei Ihnen?“
„Sie geht immer mit mir in den Keller.“ Die alte Frau hob den Kopf. „Warte mal … Könnte es sein, dass …?“
Mona war schon auf dem Weg. Wie der Wind sauste sie zur Kellertreppe.
Das Kratzen und Fiepen wurde lauter. Mona riss die Kellertür auf und Fipsi schoss hervor. So schnell hatte Mona sie noch nie laufen sehen. Sie flitzte geradewegs zu ihrem Frauchen. Dabei bellte sie wie wild.
Als Mona im Wohnzimmer ankam, weinte Frau Görbel. „Mein armes Hundchen“, jammerte sie, „da habe ich dich im Keller eingesperrt und es nicht gemerkt! Ach, was bin ich froh, dass dir nichts zugestoßen ist!“
Fipsi sprang abwechselnd an ihr und an Mona hoch, bevor sie in die Küche zu ihrem Trinknapf trottete.
Frau Görbel nahm Monas Hand und hielt sie ganz fest. „Was hätte ich bloß ohne dich gemacht? Wer weiß, wann ich Fipsi gefunden hätte! Wie soll ich dir nur danken?“
„Sie brauchen mir nicht zu danken“, versicherte Mona. „Ich freue mich einfach, dass Fipsi wieder da ist.“
Frau Görbel hatte immer noch Tränen in den Augen. „Du bist ein liebes Mädchen.“
Als Mona nach Hause ging, hatte sie ein richtig gutes Gefühl. Den ganzen Abend freute sie sich, dass Frau Görbel Fipsi wiederhatte.
Erst beim Zubettgehen dachte sie an den Adventskalender. „Merkwürdig“, sagte sie, „es ist das erste Mal, dass das Christkind sein Versprechen nicht gehalten hat. Ich habe heute nirgendwo einen Engel gesehen.“
„Aber ich!“ Mama lächelte.
„Ich auch.“ Papa lächelte ebenfalls.
Mona war verwirrt. „Meint ihr den Porzellanengel, der in Frau Görbels Fenster steht?“
„Ich meine einen Engel, den das Christkind zu Frau Görbel geschickt hat.“
Mama sprach in Rätseln.
„Keinen aus Porzellan“, setzte Papa hinzu.
Er sprach ebenfalls in Rätseln.
Oder … Halt! Meinten sie etwa … Fragend blickte sie ihre Eltern an.
Die nickten. „Dieser Engel warst du.“
Mona wurde innen ganz warm – vor Freude, vor Stolz, auch ein bisschen vor Verlegenheit. Und vor Staunen, dass sie ein Engel gewesen war, ohne es zu merken.
Auf ihrem Kopfkissen entdeckte sie später einen Engel aus Holz.
„Ich finde, er sieht aus wie du“, meinte Papa.
Mama gab ihr einen Kuss. „Gute Nacht, Engelchen.“
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Eva Markert
Ein ganz besonderer Adventskalender
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